Kinderleicht: die Kunstgeschichte als Bilderschlange

Tina Lüers

Das Leporello in Ihr - Ein Leporello ist dieses Werk der Kunstvermittlung. Ein buntes Buch, dessen harmonikaartig gefaltete Seiten Landkarten, Prospekten und schillernden Bilderbuchillustrationen ähneln. Ein Kleinod, auf dessen jeder Seite etwas Geliebtes abgebildet worden ist, etwas, das einst Alles hätte versprechen können. Wie die Geliebten Don Giovannis. Als der Diener des auch mozartschen Herzensbrechers die Liste der Damen mit den zumeist bereits zerbrochenen Herzen entfaltet, bekommen dieser Art plissierte Schlangen ihren Namen; nämlich seinen: Leporello. Nicht gerade eine Liste, deren Nacheinander sich je gegenseitig beflügelt hätten - wie wohl jedoch übertrumpft in der Größe des Wahns oder der Eifersucht.

Das Nachfolgemodell des genuinen Leporellos, das Kunstkompendium des 20. Jahrhunderts, hat andere Qualitäten. Acrylic history on canvas schafft, in angenehmer Distanz von vermeintlich historisch repräsentativer Folgerichtigkeit, ein Gegenüber im dialektischen Verhältnis von Innen nach Außen und wieder zurück. „Gegenüber“ der Kunst kann sowohl der Betrachter werden als auch die immanenten Bezüge untereinander. Im Faltwerk der Beziehungen generieren sich Positionen und Zusammenhänge aus ihren vermeintlichen Verankerungen heraus neu. Und so sind Leerstellen auf einmal wieder zu sehen, nicht wundergleich und doch dort, wo niemand sie vermutet hätte: Bereit, verschoben zu werden. Doch davon weiß die Schlange nichts, denn sie ist Kunst. Ihre Malerei überzeugt die Kleinen wie die Großen unter den Betrachtern „Ist das Alles gemalt?“ Im Dreischritt: Zitation von Kunstwerken als Kunstvermittlung als konzeptionelle Kunst. Nicht nur eine vermittelte Vermittlerin oder die Kunst der Vermittlung, sondern sie selbst, schöne Muse.

Der Maler kommt und geht doch wieder - Der Maler, den es wirklich gibt und den jeder beim Eintritt in diese Kunst-Geschichte zu sehen bekommt, ist freundlich und spricht von sich als „dem Künstler“ in der dritten Person. An seinem Atelierschlüssel baumelt ein abgenagter Knochen. Bereitwillig heißt er alle willkommen, er erklärt das Aufspannen der Leinwände, die Grundierung, seinen Arbeitsplatz und sich, soweit es geht, selbst. Die Arbeiten sind schließlich von ihm. Er hat sie alle gemacht, mit dem Kopf und mit den Händen in monatelanger Arbeit. Das beeindruckt die Kinder. Er selbst ist eine Kunstfigur. Das beeindruckt die Sachkenner. Und er verschwindet gleich wieder hinter seinem Werk, denn er ist ein Teil notwendigen Diskurses und des Konzeptes, das sich der konzeptionelle Künstler ausgedacht hat, nicht der Maler.

Die Kinder sind dran - „Oh, schön! Ja! Ja! Ja!“ lärmen die Kinder vor den Gemälden, springen vor dem dekorativen Blumenstrauß auf und nieder und entdecken den fast Ittenschen Farbkreis. Im besten Sinne anthroposophischer Erkenntniserweiterung wiederholen sie dessen Verlauf, mit großen Bewegungen kreisen ihre Arme der bunten Schnecke nach. Zeit zum Abheben. Die Bilder sind doppelt so hoch wie die meisten von ihnen, aber das sind Kinder von ihrer Umwelt ja gewohnt - ein Riese, größer als die Hochhäuser wird sofort benannt und ist gerade einmal so groß wie ein Erwachsener. „Das Gestreifte kommt von einem Zebra!“ Alltagserfahrungen werden in den Bildern wieder gefunden, benannt und interpretiert oder doch zumindest kommentiert: „So einen Hasen hat meine Oma auch!“ oder „Der Hase guckt aber böse“.

Größenverhältnisse benennen, Erfahrungen abgleichen, sich selbst in Beziehung setzen: Ein direkter, unverblümter Umgang mit Kunst. Keine Scheu, kein Blatt vor dem Mund, der bekanntermaßen Wahrheit kund tut. „Warum is das da nur gekleckst das is ja nur gekleckst warum is das so?“ - „Ich zähl mal die Punkte auf dem Bild.“ Zwei Kinder vor dem gleichen Bild: Ein drip-painting mittig, grundiert ist die Leinwand hellbraun, am Rand mit rohweißen Streifen bemalt. Eine phänomenologische und eine mathematisch-analytische Herangehensweise vielleicht, ganz anders der Ausruf zur verschachtelten kubistischen Dogge: „Cool, mein Lieblingsbild, der fällt, nee, der liegt.“ Unmittelbar emotional - im Kern, neben der Selbstbestimmung und unwillkürlichen Positionierung ohne auch nur einmal genauer hingesehen zu haben, eine wichtige Aussage: Die Auflösung von Bezügen im Raum deutet sich darin an. Der Raum wiederum, in dem die Bilder wie eine Ziehharmonika angeordnet sind, ist für die Kinder wohl hinter der Monumentalität der Bilder nicht mehr auszumachen. Kunst ist die Wand, die Grenze, die Außenhaut und markiert das Äußerste. Eine Welt in der Welt. Und wie im richtigen Leben: Nicht anfassen bitte. Bewölkt vom weißen Licht hinter den Vorhängen entfaltet sich die museale Aura: Silencium bitte - nicht für die Kinder. „Krickelakrack - so darf man nicht malen“, wer, Frevler, setzte schon die Norm abseits von Phantasiegebilden? Aber: „Küss doch mal den dicken Mund da!“ Die Ikone, schwarz geworden vom Fetisch der aufgelegten Lippen und Hände, ersteht neu in der kindlichen Gleichsetzung und Verschränkung von Bild und Abbild, Fiktion und Realität: „Ein Himmel!“ - aber das hier ist keine Pfeife.

Seltener natürlich und Zufall ebenso wie großartig, bei aller Liebe zur Überinterpretation, sind Aussagen wie: „Das ist ja so schwarz da kann ich ja gar nichts drauf erkennen.“ Ad Reinhardt, und das muss man an dieser Stelle wissen, erzeugte mit mechanischer Zeitbeschleunigung das ausufernde Überbild, dessen gegenständliche Verdichtung so sehr zunahm, dass am Ende nichts mehr zu erkennen war, wie das 5- jährige Kind richtig feststellte. Vermeintlich monochrom schwarze gegenstandslose Bilder, am Schluss, am einen Ende der Moderne, nur noch Quadrate, entstanden sind sie hingegen Schicht um Schicht aus den Primärfarben Blau, Rot und Gelb. Durch Überschichten verschwanden die Dinge aus der Augenscheinlichkeit des Bildes, gleichwohl sie unterschichtig vorhanden sind. Und so schrieb Kathrin Schmidt in ihrem Roma Koenigs Kinder: „Mit dem Auftauchen der kleinen Janina bekamen die Dinge ihre Kehrseite zurück“. Doch schließlich sieht man nur das, was man auch weiß. Und letztlich ist das womöglich der wichtigste Grund für Kunstvermittlung.

Radikalisierung im Remix - Radikalisiert könnte man sagen, dass die Bilderschlange die zeichenhafte Vielheit der Stilmerkmale ohne Subjekt auskommen lassen möchte und so angewandter Dekonstruktivismus ist. Dies zeigt sich im Prinzip der Pluralität und der Möglichkeit der unendlichen Substitution der Signifikanten, hinter der der Künstler nach einer Random-Methode ganz zurücksteht und als Subjekt nicht ausschlaggebend ist. Geschichtlichkeit wird im Dialog, im Gegenüber der unterschiedlichen Signifikanten, jederzeit remixbar, obsolet.

Entkategorisierung - Dass nun aber vermittelt sich leider nicht unmittelbar. Dauerhaft befangen haben bereits Schüler seit langem gelernt, Kategorien anzuwenden, phänotypische Merkmale einzuordnen in die epochalen und stilsicheren Schubladenfächer. Die Franz- Marcschen Blauen Pferde würden mit einem kulturpessimistischen Teppichklopfer durchgehen, hätten sie folgenden Leistungskursschüler über sich gehört: „Das ist doch von Van Gogh, und der hatte doch auch eine Blaue Periode, aber ich bin mir nicht sicher, es ist jedenfalls Expressionismus“. Die ungeahnte Anpassung zeigt sich im Bemühen um das verlangte abfragbare Wissen, weiterführende Assoziationen werden weitestgehend vermieden. Die Bilderschlange dagegen versucht eine „Entkategorisierung“ von Kunst. „Stellt Euch doch mal vor das Bild, das Euch am besten gefällt“ - körperlicher Einsatz, die Kunst ist monumental genug, sie zu erwandern. Jede gewählte Position eine Positionierung. Quer denken für alle Dinge, die man weiß, aber an die man nicht in diesem Moment denkt. Getarnt auslaufen lassen ohne Abendmahl, verspielt Papier zerschneiden wäre praktikabel oder feixend die Ecke eines Farbfeldes hochribbeln oder über Indiana Pinselstriche malen. Mut braucht es. Auch für die Blut-und-Boden-Ästhetik Kiefers, materialfetischisierende Kunstlandschaft. Nitsch mit Picabia - für die Großen Harmonie gleichwie Ekel, für die Jüngeren schreiende Nacktheit.

Indem die Schlange die Möglichkeit schafft, neue Verschränkungen zu erproben, schafft sie Raum für aufsteigende Überschüsse oder schroffe Abhänge, deren Bedeutung augenblicklich von Betrachterhand sich zu konstituieren oder auch zu verwerfen in der Lage wäre. Das Kinderbild gefällt den älteren Schülern gar nicht - es ist „irgendwie zu einfach, zu nah am Kindergarten“ gerade deswegen lieben es die Kindergartenkinder und würden sich nie über Pollocks Tropfen aufregen. „Der Totenkopf ist mir unheimlich“ - „Ich finde ihn einfach schön“ - „Dort brennt es doch im Gehirn“, der Spaß an der Morbidität oder dem Subversiven einer flammenden Idee im Kopf. Nichtsdestotrotz können selbstverständlich beflissene oder bewanderte Betrachter bei einem bloßen Ratespiel der Stilrichtungen samt unvermeidlichem name-dropping verbleiben - wenngleich noch gar nicht existierende Verknüpfungen ohne das Wagnis Neuentwurf verloren gingen.

Revolutions-Resolution - Der ursprünglich auf Abwechslung ausgerichtete Ablauf der Kunstgeschichte gebiert so am Ende etwas, das über das Zitat hinausweist. Es eröffnen sich Bedeutungsverschiebungen, die allein letztlich möglich sind. Auch eine Revolution entsteht schließlich systemimmanent, so sehr sie bestehende Verhältnisse verändern mag, entspringt sie weder allein einer kühnen Idee noch aus sich selbst. Jede Entwicklung und Entfaltung setzt die sehr gute Kenntnis des Gegenstandes voraus.

Man müsste also bereits Kindergärten Kunst verordnen. Professionell, gelassen und sehr gut - Assoziationsbaukästen sind geeignet. Wenn Pollock sich entschloß, seine raumgreifenden All- Over Ambitionen auf ausgelegte riesige Leinwände zu übertragen, arbeitet er wie die indianischen Sandmaler. Und wie die Kinder des Kindergartens Fuldablick / Hann.Münden es mit gefärbtem Sand dürfen. Das Medium, dessen Selbstverständlichkeit Kunst nicht vermitteln müsste, sondern sie bereits ist, träumt von Unmittelbarkeit, fernab jeder Funktionalität. Schönste, stoffliche Malerei, sei es im Museum oder eben als Kompendium on the Road, fällt mit ihrer ästhetischen und haptischen Qualität den Betrachter an, lässt ihn nicht los, großformatig, farbig, eigen. Immer wieder muss er bereit sein zur Versenkung und zum Denken, bis im Nebeneinander, Übereinander im Vor und Zurück der Kunst-Geschichte kein scheinbar schwarzes Loch, sondern eine Reihe der Geliebten entstünde, schönstes Leporello.


scrollheim + kunstforschung + panorama + duchamp + general idea + skulptur + making of + shock + dimke org